Auf der Suche nach einem anderen Deutschland

Zur Dissertation von Christian Wenkel

Die Dissertation „Auf der Suche nach einem anderen Deutschland – Das Verhältnis Frankreichs zur DDR im Spannungsfeld von Perzeption und Diplomatie“ geht von der Feststellung aus, dass es ein spezifisch französisches Interesse für die DDR gab. Dies geht etwa aus einem Vergleich der Beziehungen der verschiedenen westeuropäischen Staaten wie Großbritannien oder Italien mit der DDR hervor: So war Frankreich nach der Bundesrepublik der wichtigste westliche Handelspartner der DDR und das einzige westliche Land, das in Ost-Berlin ein Kulturzentrum unterhielt; allein in Frankreich gab es ein universitäres Forschungsinstitut, das sich mit der DDR beschäftigte, und es gab hier die mit zeitweise bis zu 15.000 Mitgliedern umfangreichste DDR-Freundschaftsgesellschaft der westlichen Hemisphäre; in keinem anderen westlichen Land wurden mehr ostdeutsche Autoren übersetzt, nirgendwo sonst spielten die Anregungen, die von ostdeutschen Theatern wie dem Berliner Ensemble oder der Ost-Berliner Komischen Oper ausgingen eine größere Rolle als in der französischen Theaterszene.

Die Arbeit untersucht, wie dieses, auf einer spezifischen Deutschlandperzeption und persönlichen Kontakten basierende Interesse zu einem mehr oder weniger aktiven Austausch zwischen Franzosen und Ostdeutschen führte und schließlich in bilaterale Beziehungen auf wirtschaftlicher, parlamentarischer und vor allem kultureller Ebene mündete. Im Gegensatz zu „normalen“ bilateralen Beziehungen, bei denen die Regierungsebene als taktgebender Motor fungiert, fehlte es den ostdeutsch-französischen Beziehungen an einer kohärenten, alle Bereiche umfassenden Chronologie. Dementsprechend sind diese Beziehungen charakterisiert durch eine Vielzahl privatgesellschaftlicher Initiativen. Grundlage der Arbeit ist die Auswertung umfangreicher französischer Quellenbestände, wobei staatliche und private Archive gleichermaßen Berücksichtigung fanden (dies sind im Einzelnen die Archive der Präsidenten der 5. Republik, des Außenministeriums, des Finanz- und Wirtschaftsministeriums, der Nationalversammlung, des Senats, der Kommunistischen Partei, des Théâtre des Nations sowie der Echanges Franco-Allemands u.a.; ergänzend dazu wurden die relevanten Bestände des Auswärtigen Amts, des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und des Foreign and Commenwealth Office konsultiert).

Um die Frage nach dem Interesse für den zweiten deutschen Staat zu beantworten, geht die Dissertation in einem ersten Teil den historischen Ursprüngen der französischen Deutschlandperzeption nach, die aus der DDR in bestimmten Kreisen jenes „andere Deutschland“ werden ließ, welches man in Frankreich seit dem Krieg von 1870/71 verloren glaubte. Die Übertragung der in jenem Kontext entstandenen Theorie der „deux Allemagnes“ auf die beiden deutschen Staaten nach 1949 wurde einerseits begünstigt durch die das französische Bild der Bundesrepublik prägende Wiederaufrüstungsdebatte, sowie andererseits durch die sich meist auf Bertolt Brecht und Anna Seghers beschränkende Kenntnis von der DDR. Auf der Analyse dieses in linksintellektuellen Kreisen verbreiteten Wahrnehmungsmusters aufbauend, skizziert die Arbeit die Geschichte des privatgesellschaftlichen Hauptakteurs in den ostdeutsch-französischen Beziehungen auf französischer Seite, der Echanges franco-allemands (später France-RDA), und stellt dadurch eine Verbindung zwischen individuellen Motiven und organisiertem bilateralen Austausch her. Die Analyse einzelner Lebenswege ermöglicht es zudem, individuelle Motive vor ihrem kulturellen Hintergrund nachvollziehbar zu machen und so eine Verbindung zwischen Wahrnehmung und persönlichem Engagement zu etablieren. Es wird dabei auch der mit den verfügbaren Quellen nur schwer zu klärenden Frage nachgegangen, welchen Einfluss die kommunistische Partei auf diese Gesellschaft und damit auf die Genese der Beziehungen ausgeübt hat. Am Ende dieses ersten Teils der Arbeit steht schließlich eine Auseinandersetzung mit der DDR als einer Projektionsfläche für politische Utopien bei französischen Linksintellektuellen, Utopien die mit dem von Walter Ulbricht unterstützten Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag im August 1968 zerbrachen. Es handelt sich hierbei um den vermutlich tiefstgreifenden Wendepunkt in den französisch-ostdeutschen Beziehungen.

Der zweite Teil der Arbeit ist der Entstehung und Entwicklung der bilateralen Beziehungen im wirtschaftlichen, kulturellen, parlamentarischen und politischen Bereich gewidmet. Für den wirtschaftlichen Bereich kann gezeigt werden, dass in den 1950er Jahren dem kommerziellen zunächst ein politisches Interesse vorausging. Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten nahmen französische Unternehmen die Normalisierung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen in den 1960er Jahren jedoch allmählich selbst in die Hand. Die von privater Hand geschaffenen Strukturen, etwa die Einrichtung eines Büros der französischen Industrie in Ost-Berlin 1970, erleichterten nur wenige Jahre später den Übergang zu offiziellen Wirtschaftsbeziehungen. Auch nach der offiziellen Anerkennung im Jahr 1973 blieb die westdeutsche Konkurrenz die größte Herausforderung für die französische Industrie auf dem ostdeutschen Markt, blieben die Beziehungen charakterisiert durch eine große Kluft zwischen Erwartungen und Realität. Die bis in die 1980er Jahre wichtigsten Bereiche wirtschaftlicher Zusammenarbeit waren die chemische und die Eisenbahnindustrie. Ein Unterkapitel thematisiert zudem das politische und wirtschaftliche Interesse an der Leiziger Messe als einem Tor nicht nur zum ostdeutschen, sondern zum gesamten osteuropäischen Markt bis hin nach China.

Sehr viel intensivere Verbindungen bestanden jedoch im Bereich Kultur. Als Beispiele dafür mögen die zahlreichen ins Französische übersetzten ostdeutschen Autoren oder die Eröffnung von Kulturinstituten in Paris und Ost-Berlin dienen. Den umfangreichsten Austausch gab es jedoch auf dem Gebiet des Theaters. Von den ersten Gastspielen des Berliner Ensembles in Paris in den 1950er Jahren bis hin zur Reise von François Mitterrand im Dezember 1989 in die DDR zieht sich das Theater Brechts wie ein roter Faden durch die Beziehungen. Es lässt sich hier sogar von einem Kulturtransfer zwischen der DDR und Frankreich sprechen – eines in den Ost-West-Beziehungen während des Kalten Krieges ansonsten ausgesprochen seltenen Phänomens, das nicht zuletzt auf die besonders engen Verflechtungen zwischen deutscher und französischer Kultur zurückzuführen ist. In den Kulturbeziehungen muss der Einfluss privatgesellschaftlicher Akteure als besonders hoch eingeschätzt werden, weshalb sich ihre Institutionalisierung nach 1973 entsprechend kompliziert gestaltete. Im Einzelnen analysiert die Arbeit die Präsenz ostdeutscher Theater beim Théâtre des Nations (von 1954 bis 1957 als Festival international d’art dramatique), die vom französischen Außenministerium vorgegebenen Spielräume, die Rolle der Echanges Franco-Allemands als Hauptakteur der Kulturbeziehungen bis in die 1970er Jahre, den langen Weg zu einem offiziellen Kulturabkommen, sowie schließlich das Aufblühen dieser Beziehungen in den 1980er Jahren.

Auf politischer Ebene ist das französische Interesse für die DDR sehr viel schwieriger nachzuweisen und zu erklären. Besonders umfangreiche Beziehungen, denen auf französischer Seite ein genuin europäisches Interesse zu Grunde lag, gab es auf parlamentarischer Ebene. Die Genese dieses Interesses wurde anhand der Wortprotokolle der Auswärtigen Ausschüsse beider Kammern analysiert, wobei gezeigt werden kann, dass zweite Berlin-Krise und Mauerbau einen entscheidenden Anteil daran hatten. Die seit 1959 von französischen Parlamentariern in die DDR unternommenen Reisen und die zu ostdeutschen Politikern unterhaltenen, quasi-diplomatischen Kontakte im Vorfeld der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten wurden als ein Mittel angesehen, um die Spaltung Europas zu überwinden; belegt wird dies etwa durch die rege Teilnahme radikal-sozialistischer Abgeordneter und Senatoren an diesem „parlamentarischen Tourismus“ in die DDR. Eine neue Stufe des Engagements wurde mit der Gründung von entsprechenden Freundschaftsgesellschaften in der französischen Nationalversammlung und im Senat zu Beginn der 1970er Jahre erreicht. Ein Höhepunkt dieser vom französischen Außenministerium zunehmend beförderten „parlamentarischen Diplomatie“ war die Reise des Präsidenten der Nationalversammlung Edgar Faure unmittelbar nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen, der die DDR als erster offizieller Vertreter des französischen Staates besuchte.

Die offizielle Anerkennung des zweiten deutschen Staates selbst wird als Teil eines multilateralen, europäischen Prozesses dargestellt, der sich über mehr als zehn Jahre erstreckte und dennoch nie abgeschlossen werden konnte, da Frankreich im Grunde kein Interesse an einer Festschreibung der deutschen Teilung hatte. Die DDR und die Normalisierung der Beziehungen mit dem zweiten deutschen Staat galten der französischen Außenpolitik vielmehr als ein Schlüssel zur Überwindung der europäischen Teilung; ein Beispiel dafür sind die Verhandlungen über den Verkauf der französischen SECAM-Technologie an die DDR. Es ist dieses Paradox zwischen aktiv betriebener Normalisierung der Beziehungen und der sich bis in Formulierungsdetails bei der Bezeichnung der französischen Botschaft in Ost-Berlin erstreckenden Kontinuität in der Grundhaltung gegenüber der deutschen Teilung, welches die Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR in den 1970er und 1980er Jahren charakterisiert. Dies erklärt etwa auch die Stagnation in den Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen nach 1973: Zwar war das Normalisierungspotential der Beziehungen bereits weitestgehend zu Beginn der 1970er Jahre ausgeschöpft worden, entscheidend war jedoch vielmehr, dass Frankreich die von der DDR eingeforderte umfassende völkerrechtliche Anerkennung ablehnte, wie es die Verhandlungen über ein Konsularabkommen zeigen.

Das der europäischen Dimension dieser Beziehungen gewidmete Schlusskapitel zeigt dementsprechend Kontinuitätslinien der französischen Deutschlandpolitik von den 1950er bis in die 1980er Jahre, von Charles de Gaulle bis François Mitterrand auf. So diente die von Charles de Gaulle gelegentlich einer vielzitierten Pressekonferenz vom 25. März 1959 formulierte Definition der französischen Haltung gegenüber der DDR und Deutschland in seiner Gesamtheit noch im Herbst 1989 französischen Diplomaten als Vorlage für ihr eigenes Handeln. Die häufig missverstandene Reise von François Mitterrand im Dezember 1989 in die DDR war nur dem Anschein nach der Höhepunkt der französisch-ostdeutschen Beziehungen. Tatsächlich sollte sie der Stabilisierung des europäischen Kontinents inmitten eines grundstürzenden Umbruchs dienen; die deutsche Teilung sollte im Rahmen eines europäischen Integrations- und Einigungsprozesses überwunden werden. Die von Mitterrand bei dieser Reise gehaltenen Reden zeigen auch, dass die DDR aus französischer Sicht immer auch als ein integrativer Bestandteil Deutschlands zu verstehen ist. Nicht nur für Mitterrand gilt: Dem französischen Interesse für die DDR ging immer ein allgemeines Interesse für Deutschland voraus. Die Beziehungen Frankreichs zur DDR müssen mithin auch als ein integrativer Bestandteil der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert verstanden werden.

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